Eine frühe Mittagssonne brannte uns entgegen. Abgemagerte Wolkenfetzen trieben über den Himmel, ausgedörrt vom gleißend weißen Licht dieses Sommertages. Flirrend stand die heiße Luft über der sanften Hügellandschaft, durch die sich die Autobahn wie ein zäher Fluss aus Asphalt hindurchzog. Mein Fuß lag wie Blei auf dem Gaspedal des weißen Mercedes, mit dem wir Richtung Süden donnerten – in unseren sechsten gemeinsamen Urlaub.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie schlief, oder es zumindest versuchte. Endlich. Das bedeutete eine Weile Ruhe. Ein bisschen Luft, ein Körnchen Freiheit. Nur das dumpfe Dröhnen des Motors und das Rollen der Reifen auf dem heißen Asphalt untermalten diesen Moment. Die Musik hatte ich schon vor einer ganzen Weile nach unserem üblichen Streit abgestellt. Geblieben war die zerbrechliche Ruhe die ich versuchte so tief es ging einzuatmen.

Zwei Stunden später erreichten wir das malerische Städtchen inmitten der Cevennen, wo ich uns ein Hotel für zwei Wochen reserviert hatte. Zwei Wochen. Ziemlich optimistisch. Vielleicht sollte es so etwas sein wie ein Zeichen des guten Willens, so wie dieser ganze Urlaub überhaupt.

Immerhin hatte ich eine malerische, unter anderen Umständen hätte ich gesagt – romantische -Kulisse gewählt: Das Hotel lag wie ein kleines vergessenes Überbleibsel aus Zeit des Film noir im Zentrum des Städtchens. Wir bezogen ein Zimmer im ersten Obergeschoss mit Blick auf den Marktplatz, auf dem, wie man uns versicherte, jeden Mittwoch und Samstag ein Markt mit kulinarischen Produkten aus der Region zum Schlendern und Probieren einlud.

Ich konnte mir in diesem Moment nur schwer vorstellen, wie wir gemeinsam gemütlich den Markt schlenderten, aber der Hotelier pries eben das an, was er allen Paaren anpries, die sich in dieses verlorene Nest verirrten.

Während ich das Zimmer und das kleine Bad inspizierte, öffnete sie die hohen Flügel der Balkontür und trat hinaus auf den winzigen Balkon. Eine Weile betrachtete das Panorama, das dieser in der Zeit stehen gebliebene Ort bot und stellte als sie wieder hereinkam, eine Frage mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte:

»Liebst Du mich?«

Licht staubte ins Zimmer.
 Der Teppich warf kleine Wellen. Ein Kratzer im Holz der Bettkante sonnte sich im Licht dieses Nachmittags. Kleine, völlig uninteressante Details konkurrierten um meine Aufmerksamkeit. Mein Kopf verwandelte sich auf einen Schlag in eine trockene Wüste und sollte nun eine adäquate Antwort ausspucken. Unmöglich. Nichts war da. Nur Leere. 

Es war einer dieser Momente in der mir das Leben widersinnig und unwirklich vorkam, in denen ich am liebsten aus einem Traum aufgewacht, einfach aufgestanden und gegangen wäre. Aber nein. Ich stand hier, in diesem Hotel, in der Hand den Zimmerschlüssel. Sie sah mich an und zog einen Schmollmund. Ihr Blick ging an mir vorbei und verfing sich in dem schweren, muffigen Vorhang, der himbeersoßenrot von der Decke bis zum Boden reichte.

Ich rief den Terroristen in mir, befahl ihm, alles in die Luft zu sprengen, endlich aktiv zu werden. Aber dieser kleine Feigling versteckte sich irgendwo ganz tief im Keller meines armseligen Bewusstseins und machte sich vor Angst in die Hose. In der Not zimmerte meine Zunge ein armseliges »ja« zusammen. Nicht schön, nicht ehrlich – einfach nur so, dass es da war und gehört werden konnte. Man hätte dieses »ja« als Aschenbecher auf den Tisch stellen können – dann hätte es wenigstens irgendeinen Sinn gehabt. Aber man kann Worte nicht auf den Tisch stellen. So ist die Realität.

Sperrig und vertrackt.

Die Frage – woher kam sie eigentlich? Sie war banal und die Antwort eine Lüge. Ich hatte Mühe nachzuvollziehen, was ihr mit einem Mal an meinen Gefühlen ihr gegenüber so wichtig sein sollte. Plötzliche Urlaubsromantik? Nein. Es musste andere Gründe haben.

»Warum fragst Du?«

Ich wartete auf eine Antwort, während sie ihren Koffer auspackte, die Sachen sauber im Schank verstaute und schließlich im Bad verschwand.

Und jetzt? Nichts. Sie duschte.

Eine Weile lang lauschte ich dem Prasseln des Wassers, dann setzte ich mich auf die Bettkante und sah mich um. Ich erinnerte mich daran, dass ich schon einmal hier gewesen war. Vor ein paar Jahren. Nicht im Hotel, sondern draußen in den Straßen, am Fluss. Ich blickte zum Fenster. Dort war draußen und hier war drinnen und für einen kurzen Moment schien es mir völlig inakzeptabel, dass beides voneinander getrennt war. 

Vom Bett aus konnte ich den Himmel sehen. Er war von einem strahlenden Blau, durch nichts getrübt. So neu und unberührt, dass es schmerzte. Es erinnerte mich an die Freiheit von damals, als ich zum ersten Mal hier war. Ich saß da und starrte in dieses wunderschöne monochrome Blau und vergaß allmählich, dass es nur der Himmel war.  Tränen begannen mir mir übers Gesicht zu laufen und ich bekam Lust aus dem Fenster zu steigen um zurückzukehren in dieses Blau. Es war wie ein Bild, in dem man versinken kann, das einen entführt aus der Realität. Könnte man Worte doch einfach auf den Tisch stellen und in Bildern verschwinden.

Dann wurde ich jäh aus meiner Träumerei gerissen. Es passierte etwas, das um keinen Preis hätte passieren dürfen. Vom linken Rand des Fensterrahmens aus begann eine weiße Linie das blaue Bild in zwei Hälften zu zerschneiden. Erschrocken rückte ich ein Stück zur Seite, um meinen Blickwinkel zu ändern und so das makellose Blau wieder herzustellen. Nach ein paar Sekunden tauchte die Linie erneut auf.
Ich rutschte noch weiter nach links. Vergebens. Abermals drängte sich die weiße Linie wie ein Schnitt in die blaue Fläche. Ich rutschte weiter, so weit, wie es nur ging, bis ich am Kopfende des Bettes angelangt war, wo mir die Wand den Weg versperrte und ich hilflos zusehen musste, wie das unberührte Blau grausam gleichmäßig in eine obere und eine untere Hälfte, in ein Früher und ein Heute, ein Davor und Danach zerteilt wurde.

Es war ein Flugzeug, nichts als ein albernes Flugzeug das da über den Himmel zog. Aber in Gedanken wünschte ich, es möge auf der Stelle explodieren oder wie ein Stein vom Himmel fallen, bevor es mit seinen Kondensstreifen das Blau vollends zerteilte.
Als sie aus dem Bad kam, lag ich ans Kopfende des Bettes gepresst, mit geballten Fäusten aus dem Fenster starrend und zischte: »Stürz ab, du Scheißding, stürz ab!«

Sie kam ans Bett, sah mich fragend an, blinzelte nach draußen und sah wieder mich an.

»Was machst du da? Was ist da draußen?«

»Nichts.«

Später saßen wir beim Abendessen und schwiegen uns an. Meine Frage vom Nachmittag hing immer noch unbeantwortet zwischen uns. Wie so vieles, was unbeantwortet zwischen uns hing.

Der Kellner kam und brachte die Karte. Ich bat ihn uns ein zweite zu bringen. Erfahrungsgemäß endete es nicht gut, wenn wir unsere Nasen gemeinsam in eine Speisekarte steckten. Ich wählte irgendetwas mit Salat. Das gab mir die Möglichkeit, die aufkommenden Leere zu überbrücken und begab mich nach einer wohltaxierten Höflichkeitspause zum Salat-Buffet. Während ich mir ein paar Tomaten auf den Teller lud, sprach mich ein Mann an, der sich ebenfalls am Buffet bediente. Ob ich schon von dem schrecklichen Flugzeugunglück hier in der Gegend gehört hätte. 

»Flugzeugunglück?« 

»Ja, die Maschine ist keine zwanzig Kilometer von hier runtergekommen. Einfach so. Plötzlich wie ein Stein vom Himmel gefallen, schreckliche Sache.«

Mit einem Mal wurde ich hellhörig.

»Wann?«

»Heute Nachmittag, vor zwei, drei Stunden etwa.«

Die Tomaten rutschen vom Teller in die Schale mit den Schrimps. Ich sah mich um. Erst jetzt bemerkte ich all die Aschenbecher, die sich zwischen den Paaren auf den Tischen stapelten. Ich ließ den Teller fallen und ging auf das nächstliegende Fenster des Speisesaals zu und sah hinaus. Der Himmel strahlte blau und unberührt, in der Ferne hörte man Sirenengeheul. Ich streckte die Hand aus, sah mit leuchtenden Augen, wie sie in diesem wunderschönen monochromen Blau versank.

Dann tat ich einen Schritt um selbst darin zu verschwinden.