Eine kritische Stellungnahme
von Dr. Silke Kirch · Fotos: Harald Etzemüller
Schokolade ist ja immer eine Verführung. In Basel gibt es jetzt Giacomettis Ohr aus feinster Bio-Schokolade – jenes Ohr, das Meret Oppenheim einst nach dem Vorbild von Giacomettis linkem oder rechtem Ohr aus Wachs formte und in Bronze gießen ließ. Verdienen tut da niemand dran, aber irgendwie soll wohl mit dieser Ohrensache Kunst ins Volk gestreut werden. Ein Aufhorchen anlässlich des 100. Geburtstages der deutsch-schweizerischen Künstlerin. 21 KünstlerInnen bespielen im Rekurs auf Meret Oppenheims Naturbegriff 10 Wochen lang die Stadt mit ihren Exponaten. Initiatoren des Projektes sind »die nomadisierenden Veranstalter« Silvia Buol und Simon Baur. Im Wahrnehmungshorizont der großen Häuser wie Kunsthalle und Schaulager liegt Meret Oppenheim offenkundig nicht. Möglicherweise gibt es ein Problem mit Sinnesorganen. Aber warum nur müssen die Großen immer erst ein Ohr hergeben, dass man auf sie aufmerksam wird? Und wer leiht den Kleinen das Ihre?
In Frankfurt ist es nicht anders. Alle wollen die Bürgernähe der Kunst. Das große Prestigeprojekt der Stadt, der Kulturcampus, wird ja seit geraumer Zeit unter direkter bürgerdemokratischer Beteiligung realisiert – alle sollten Gehör finden in Planungsworkshops und Werkstätten. Konsens der großangelegten Lauschaktion ist, dass der vor fast hundert Jahren gegründete Campus in ein Areal für Kunst- und Kulturschaffende umgebaut werden soll: Die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, das Ensemble Modern, die Tänzer der Forsythe Company, die Junge Deutsche Philharmonie, die Hessische Theaterakademie, das Frankfurter LAB, das Künstlerhaus Mousonturm, das Hindemith Institut und das Frankfurter Institut für Sozialforschung sollen hier in kreativer Vernetzung ihr Kunstschaffen neuen Möglichkeiten und Formen zutreiben. Insbesondere auch für den künstlerischen Nachwuchs soll der hochkarätig besetzte Standort Magnetwirkung haben. Der neue Kulturcampus gehört zu den Schokoladenseiten der Kulturpolitik.
Kritische Stimmen gibt es diverse. Fehlende Transparenz, Zurückhaltung von Information und mangelnde Bewerbung der Planungswerkstätten, so kritische Bürger, führten dazu, dass das Forum der Direktdemokratie zu einem »Schattenkabinett privater Investoren« verkommen sei. Im Westend ansässige Bürger monieren ihrerseits, nicht an den runden Tisch geladen zu sein, obgleich der ehemalige Universitätscampus ebenso zur Gemarkung Westend wie Bockenheim gehöre.
Das neue Herzzentrum der Kunst möchte neue Impulse in der Stadt und weit über die Stadt hinaus setzen. Aber es ist kompliziert: Wo bleibt sie denn nun, die Bürgernähe? Allerorten verordnen sinkende Haushaltsmittel Kürzungen im Bereich der Kultur. Stadtbüchereien, Kunstschulen, Musikschulen – sofern städtisch – werden in existenzbedrohender Weise immer stärker eingeschränkt. Die tatsächlich bürgernahen Kultur- und Kunstprojekte verlieren vielerorts immer mehr an Boden. Herz-Lungenmaschinen sind ja zuweilen überlebensnotwendig. Aber sie sind nicht aus dem Stoff gemacht, den sie befördern. In eine Form gegossen, kann Kunst schnell gerinnen. Dann entsteht Bedeutungsvolles, das wir genüsslich konsumieren können. Wollen wir diese Schokolade?
Nein: Die städtische Kulturpolitik hat ja über den Kulturcampus hinaus noch mehr Schokoladenseiten. Auch andernorts wird die Basis für die freien Künstler vergrößert. ATELIERFRANKFURT e.V. wird durch den diesjährigen Umzug dreimal so viel Fläche zur Verfügung stellen können wie bisher. Der Vorsitzende des Frankfurter Kunstvereins, Michael Loulakis, vermietet hierfür die Stammimmobilie des einstigen Familienunternehmens Loulakis in der Schwedlerstraße. Der größere Teil der künftigen Betriebskosten wird von Atelierfrankfurt (50% durch Aufgabe anderer Standorte), dem Vermieter der Immobilie (15% in Form von Mietminderungen) und der Stadt (15%) geschultert. Also vom Kulturamt, das den Verein mit 250.000 € im Jahr fördert, vom Vermieter, der zugleich Vorsitzender des mit städtischen Mitteln geförderten Kunstvereins ist, und von der Stadt. Die darüber hinaus erheblichen Kosten für Umzug und Umbau – so heißt es – tragen Atelierfrankfurt und – wiederum – der Hauseigentümer. Es geht um eine Summe von 350.000 €. Die Verantwortung für das Gesamtprojekt trägt Atelierfrankfurt. Wie auch immer die Verzweigungen an den Seiten sein mögen – der Kulturbetrieb wird genährt über eine Art Pfahlwurzel. Die bohrt und krallt sich fest und schickt irgendwie nach oben, was oben gebraucht wird. Auch wenn es nur um einen Mietvertrag für fünf Jahre geht, was ja immerhin um einiges länger ist, als die Arbeitsverträge, mit denen Kulturschaffende im Allgemeinen heutzutage rechnen können. Geld will freilich erst einmal verdient werden. Die Berührung mit Kunst indes, so der Eindruck, wird immer teurer, die Absicherung der Künstler immer prekärer.
Aber wir wollen nicht Eulen nach Athen tragen oder Schokoladenohren nach Frankfurt. Es ist ja möglich, dass Menschen über Kunst stolpern und zwar nicht erst dann, wenn es um vagabundierende Ohren geht, die verdaulich sein mögen oder nicht. Das fängt leise an und unaufdringlich. Es lässt der Kunst ihren eigenen Herzschlag, jeder den ihren und will nicht mehr sein als das, was in ihr lebt. Auf die Frage: Was ist Dein Atelier? antwortete Giacometti: Zwei kleine Füße, die vorwärts gehen. Der Kunstverein EULENGASSE e.V. versammelt viele Füße, die vorwärts gehen. Da siehst du nichts in Form Gegossenes, sondern erlebst, wie Kunst hervorgebracht wird und dir Fragen stellt, denen du nicht ausweichen kannst. Aber gerade dann, wenn die großen Gesten fehlen, wird es vielleicht manchmal ungemütlich. Weil die Nähe dich in einen anderen Aggregatzustand versetzt. Und dann merkst du, dass du Ohren für das Gleichgewicht brauchst. Und alle anderen Sinne auch.
In Basel beschäftigen sich die Künstler auf den Spuren Meret Oppenheims mit dem Geheimnis der Vegetation und erkunden und erobern dabei den Stadtraum. Auch EULENGASSE lässt Kunst zellulär wachsen – Zellen, die hier und dort keimen. Es sind nicht die Pfahlwurzeln, die der Kunst zuverlässig zum Leben verhelfen; ebensowenig ist deren Bedeutung in einer grundlegenden Struktur auszumachen. Es ist die Freiheit des Vielen, das sich berührt, vernetzt, entwickelt und differenziert. Dafür braucht es keine Hauptwurzeln, sondern filigrane Netzwerke, die das Andere anders sein lassen und ihm die Möglichkeit geben, für sich oder im Austausch immer neue Formen zu (er)finden.
Mit der Schokolade ist es so: Sie kann ziemlich schnell schmelzen – und zwar umso schneller, je intensiver man mit ihr in Berührung kommt. War sie mal ein Ohr, leckt man sich die Finger, schluckt es runter oder schmiert es irgendwohin. War sie nie ein Ohr, kann sie noch alles Mögliche werden. Vielleicht Kunst. Das kann man vorher nicht wissen.